17.05.2019
Die internationale Konferenz "Quo vadis, Mitteleuropa?" des Forum Mitteleuropa fand am 17. Mai 2019 im Sächsischen Landtag in Dresden statt. Im Zentrum standen die Themen "Mitteleuropas Staaten in Europa: Gegeneinander, Nebeneinander, Miteinander?" sowie "Mitteleuropa und seine Nachbarn – Herausforderungen und Perspektiven".
Die Europäische Union durchlebt einen Umbruch, die europäischen Institutionen und die EU-Mitgliedsstaaten sehen sich zurzeit mit mehreren kapitalen Herausforderungen auf einmal konfrontiert. Das Projekt der Sicherheits- und Verteidigungsunion soll effektiv vorangetrieben werden, die Verhandlungen über den EU-Austritt Großbritanniens (Brexit) erweisen sich als äußerst schwierig. Die europäische Flüchtlings- und Migrationspolitik gleicht einer Großbaustelle. Die Eurozone sieht sich merklichen Umbauten bevor, die Euro-Schuldenkrise ist zwar beruhigt, aber nicht überwunden. Zu guter Letzt stehen grundlegende Reformentscheidungen über die zukünftigen Strukturen und Ziele der EU an, begleitet von den Verhandlungen über den mehrjährigen EU-Finanzrahmen 2021-2027 und flankiert von der Wahl zum Europäischen Parlament im Mai 2019. Im Zusammentreffen mit diversen Krisen rissen so teils tiefe Gräben zwischen den EU-Mitgliedsstaaten auf. Insbesondere klafft ein Spalt hin zu den Ländern Mitteleuropas, die bei allen diesen Entwicklungen eine markante Rolle spielen.
Umso wichtiger sei ein stetiger Austausch untereinander, betonte Dr. Matthias Rößler in seiner Eröffnungsansprache. Vertrauen als "Voraussetzung für ein Miteinander der Staaten in Europa" könne nur im Dialog entstehen. Sachsen diene hierfür von Mitteleuropa aus nach Europa hinein als Brückenbauer und Kommunikator. Die Menschen in Mitteleuropa hätten 1989 in einer gemeinsamen Freiheitsrevolution die Spaltung Europas überwunden, ihre Staaten entwickelten sich nun neben den "bisher in Europa tonangebenden West- und Südeuropäern" zu selbstbewussten Kräften innerhalb der EU. Hieraus ergebe sich in Mitteleuropa eine größere Verantwortung für Europa, so Rößler. "Als Mitteleuropäer sollten wir uns unserer Kraft bewusst sein, die wir an dieser Stelle für Europa in die Waagschale werfen können." Das Ziel könne nur sein, dass die Europäische Union wieder an Attraktivität gewinne. Es gehe in Europa nur gemeinsam.
Den ersten Themenblock "Mitteleuropas Staaten in Europa: Gegeneinander, Nebeneinander, Miteinander?" eröffnete Dr. László Kövér, Präsident der Ungarischen Nationalversammlung mit einem Impulsreferat. Darin sprach er Krisen in der EU an: den Arbeitskräftemangel, der nicht "von einer in die EU gerichteten externen Migration, noch von einer Migration innerhalb der EU gelöst werden" könne, sowie die alarmierend hohe Verschuldung einiger EU-Mitgliedsstaaten. Die Mittelschicht als "Eckpfeiler der EU-Wirtschaft" und "der europäischen Demokratie" würde durch eine kontinuierlich steigende Steuerlast eingeschränkt, was "die Wirtschaftskraft der Europäischen Union schwinden" lasse. Kövér beschwor die Erhaltung eines Europas "nach christlichen und nationalen Grundsätzen", um diesen Krisen effektiv begegnen zu können. Zuvor hatte er auf einen "Kampf um die europäische Zivilisation" abgestellt. Die "gemeinschaftsbildende Kraft des christlichen Gedankens" stelle dabei "eine Schlüsselrolle im Leben Europas" dar und müsse geschützt werden.
Wolfgang Sobotka, Präsident des Nationalrats der Republik Österreich, sah Mitteleuropa als besonderen Kulturraum, der zu verbinden verstehe, der das christlich-humanistische Erbe grenzüberschreitend geprägt habe, und der bewahrt werden müsse. Aus diesem "besonderen Kapital" könne Mitteleuropa heute schöpfen, um "Impulsgeber für die EU zu sein" und eine Brückenfunktion zu erfüllen. Die Balkanstaaten, "für Europa zwingend notwendig", könnten über die Brücke Mitteleuropa in die EU hineinwachsen. Dabei müsse aber effizienter vorgegangen werden. Mitteleuropa sei nicht nur Vorreiter für mehr Subsidiarität und föderalistische Strukturen in Europa, es habe auch größte Verantwortung beim Gewähren funktionierender Rechtsstaatlichkeit. Die mitteleuropäischen Dissidenten hätten schließlich vor 1989 um den Rechtsstaat gerungen. Auch daher könne man heute nicht dulden, wenn das Recht gebrochen oder gebeugt würde. Der Rechtsstaat sei die europäische "Klammer".
In der Podiumsdiskussion erweiterten Milan Štěch, Vizepräsident des Senats des Parlaments der Tschechischen Republik, und Richard Nikolaus Kühnel, Vertreter der Europäischen Kommission in Deutschland, die ungarische und österreichische Sichtweise. Die tschechische Gesellschaft sei "sehr liberal" und stolz auf ihre offene und erfolgreiche Wirtschaft, so Štěch. Dennoch müsse die Wirtschaftsmigration in eine gesteuerte Migration umgewandelt werden. Dies sei auch Konsens innerhalb der Visegrád-Gruppe, die wohlgemerkt "kein Gegengewicht zu Brüssel" darstelle. Er warnte vor einem "Europa der zwei Geschwindigkeiten", da dies zu weiteren Spaltungen führe, und betonte den Gedanken der Subsidiarität. Subsidiarität sei jedoch "keine Einbahnstraße" der Kompetenzrückgabe an die Nationalstaaten, sondern setze europäische Solidarität geradezu voraus, hielt Kühnel fest. Die Kritik, die Kommission arbeite nicht im Sinne der Mitgliedsstaaten, wies er klar zurück: "Es geht nur gemeinsam: Brüssel und die Nationalstaaten." Die EU sei "gemeinsames Verantwortungsprojekt" und einzige Handlungsebene in den großen Fragen der Zukunft. Sie sei keine Bedrohung, sondern ein gemeinsames Haus, das den Staaten Schutz und Entwicklungsmöglichkeiten biete.
Der zweite Themenblock stand unter dem Titel „Mitteleuropa und seine Nachbarn – Herausforderungen und Perspektiven“. Janusz Reiter, Botschafter a. D. der Republik Polen in Deutschland, betonte in seinem Impulsvortrag, Europa sei heute nur ein kleiner Teil der Welt, dessen Einfluss schwinde. Entsprechend müsse die EU vorbereitet sein, um das "wunderbare europäische Projekt zu bewahren". Er habe dabei "besonders hohe Erwartungen" an Deutschland, das dieses aber durch eine fehlende "Risikokultur" nicht erfülle. Es gebe heute in Deutschland keine Fähigkeit, in weltpolitischen Kategorien zu denken. Dabei sei es doch die vordringliche "Aufgabe Deutschlands, die EU zusammenzuhalten". Die Situation in der Ukraine bewertete er als "Versagen Europas", was auf das Denken, das Land nicht als Teil Europas zu verstehen, zurückzuführen sei. Für eine Erweiterung der EU in Richtung Balkan mahnte Reiter jedoch zu Nüchternheit, da die Union sich zunächst selbst stärken müsse. Die Statik der EU sei unter Druck. Alle, auch die Staaten Mitteleuropas, hätten die Verantwortung, dass sich der Westen, dass sich Europa nicht auflöse.
Michael Kretschmer, Ministerpräsident des Freistaates Sachsen, hob die Bedeutung der EU hervor und verglich sie mit einem Haus, das mit "unglaublich viel Kraft" erbaut wurde. Es müsse alles dafür getan werden, dass es im Kern erhalten bleibe: "Man kann es umbauen, man kann es renovieren, aber wir sollten es alle miteinander nicht zerstören." Gerade jetzt, wo bisher verlässliche Partner wie die USA sich auf sich selbst konzentrierten, müsse Europa "mehr miteinander bewegen."
Die slowakische Einschätzung lieferte in der anschließenden Podiumsdiskussion Dr. Peter Lizák, Botschafter der Slowakischen Republik in Berlin. Die Ukraine, von der EU "20 Jahre vernachlässigt", sei ebenso wichtig für Europa wie der Balkan. Er forderte ein faireres Auftreten der EU-Kommission bei der Eröffnung von Beitrittsverhandlungen und kritisierte, dass diese keinen speziellen Ukraine-Beauftragten einsetze. Die Glaubwürdigkeit der Union sei beschädigt, da sie nicht konsequent und zielgerichtet handele: "Es fehlt an politischem Gewicht." Dr. Hans-Gert Pöttering, Präsident des Europäischen Parlaments a.D., argumentierte aus einem übergeordneten europäischen Gedanken heraus. Die östlichen Länder der EU nicht als im Kern mitteleuropäisch verstanden zu haben, sei ein "psychologischer Fehler" gewesen. Für die Balkanländer müsse es deshalb "eine europäische Perspektive" geben. Trotz vieler Kritik sehe er die großen Erfolge der EU: "Wir sind nicht das Paradies auf Erden, aber wir sind der bessere Teil dieser Welt." Damit einher ginge der Kern der Union, den er nicht als Interessensgemeinschaft, sondern als Wertegemeinschaft mit verbindender Solidarität charakterisierte. Dies dürfe vor allem die jüngere Generation nicht als selbstverständlich hinnehmen: "Es kann sich alles wieder ändern, wenn wir nicht engagiert sind."
Unter dem Motto "Quo vadis, Mitteleuropa?" diskutierten am 17. Mai 2019 im Plenarsaal des Sächsischen Landtags internationale Vertreter aus Politik, Wissenschaft und Gesellschaft. Heft 9 der Reihe FORUM dokumentiert die Konferenz. Das Heft ist in deutscher Sprache erhältlich. Es kann unter publikation@slt.sachsen.de als Druckversion bestellt werden.